In Neuruppins Rathaus wird Zukunft geboren
Andreas Kunow
Im Büro des Neuruppiner Bürgermeisters wurden früher Babys geboren und heute Ideen. So erzählt man es sich in Neuruppin. Aber stimmt das auch? Bürgermeister Nico Ruhle hat leise Zweifel. „Wir konnten ehrlicherweise keinen Beleg dafür finden, dass das wirklich in diesem Raum stattfand, in dem ich sitze.“
Den Spruch hat bereits Ruhles Amtsvorgänger geprägt. Auch wenn der finale Beweis fehlt, hat Ruhle das Narrativ gerne übernommen, nachdem er 2020 zum Bürgermeister der 30.000-Einwohner-Stadt im Norden Brandenburgs gewählt wurde. „Hier wurden schon immer Dinge mit Zukunft geboren“, sagt der 42-jährige Sozialdemokrat. „Das ist doch eine wunderbare Geschichte.“
Fakt ist: Das Gebäude, in dem sich das Neuruppiner Rathaus befindet, war tatsächlich einst ein Krankenhaus. Erbaut wurde es in den Jahren 1879/80 als Garnisonslazarett. Dieses diente dem Infanterie-Regiment „Großherzog Friedrich-Franz II von Mecklenburg-Schwerin“. Zwei Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkrieges wurde die Garnison aufgelöst. Nun mietete die Stadt das Bauwerk an und nutzte es ab 1922 als Städtisches Krankenhaus. Nach dem Zweiten Weltkrieg besetzte die sowjetische Armee das Gemäuer und blieb hier bis 1992. Unter anderem wurden hier Versorgungseinheiten und der Stab des Panzer-Garderegiments untergebracht.
Ein Provisorium wurde zur Dauerlösung
Währenddessen war das Neuruppiner Rathaus ein dauerhaftes Provisorium. Ursprünglich befand es sich inmitten der Altstadt. Weil dort ein neues Gerichtsgebäude geplant wurde, zogen die Rathaus-Mitarbeiter 500 Meter weiter. Das war im Jahr 1871, der neue Standort sollte nur eine Übergangslösung sein. Er bot zu wenig Platz für die ganze Stadtverwaltung, weshalb zusätzliche Außenstellen eingerichtet werden mussten. Bis Neuruppin ein besseres Gebäude fand, vergingen schließlich mehr als 120 Jahre. Die Gelegenheit eröffnete sich mit dem Abzug der Sowjetarmee, womit das frühere Krankenhaus frei wurde.
Im September 2001 konnte die Verwaltung hier einziehen. Es ist nun das „Haus A“ des neuen Rathauses. Das angrenzende „Haus B“ ist ein Ergänzungsbau aus dem Jahr 1936. Damit hat die Stadtverwaltung nun endlich ausreichend große Gebäude, um alle ihre Bereiche unterzubringen. Aber sind die Räumlichkeiten auch für den neuen Zweck geeignet? Bürgermeister Ruhle bescheinigt dem Gebäude „einen etwas kasernenartigen Charakter“: lange Flure, hohe Wände. Letzteres würde man heute wohl schon aus energetischen Gründen nicht mehr so bauen, mutmaßt der SPD-Politiker. Ansonsten ist er mit dem Standort – in der Karl-Liebknecht-Straße, zentrale Lage zwischen Altstadt und Neubaugebiet – sehr zufrieden. Auch persönlich: „Ich schaue hier aus meinem Zimmer und sehe direkt das Fontane-Denkmal.“ Für den Bürgermeister der Theodor-Fontane-Stadt Neuruppin könne es gar kein besseres Büro geben.
Manch anderen würde es dort vielleicht etwas gruseln. Denn das Rathaus verfügt über ein kleines, kapellenartiges Nebengebäude. Vermutlich handelt es sich um eine ehemalige Leichenhalle. Nico Ruhle ist zum Glück nicht abergläubisch. Ihn stört der Anbau eher aus ästhetischen Gründen. „So ein kleines Gebäude, mit dem man nicht so recht was anfangen kann“, sagt er. Der Verwaltung gefällt es nicht, sie hat sogar schon einen Abriss erwägt. Doch der Denkmalschutz stellte sich quer. Also werden dort jetzt Fahrräder untergestellt.
Das Militär prägte die Entwicklung der Stadt
Laut einer Denkmaltopografie der Stadt Neuruppin ist das ehemalige Garnisonslazarett von wesentlicher städtebaulicher Bedeutung. „Es gehört zu den herausragenden Bauten des Historismus“, ist da zu lesen. Außerdem veranschauliche es den Einfluss der Garnison auf die Neuruppiner Stadtentwicklung.
Die Geschichte der Stadt wurde immer wieder vom Militär geprägt. Inoffiziell spricht man auch von „der preußischsten aller Städte“. Nach einem Stadtbrand im Jahr 1787 wurde die Innenstadt nach einem schachbrettartigen Muster wieder aufgebaut. „Es hat auch damit zu tun, dass hier viel Militär untergebracht war, was eine Ordnungswut mit sich brachte“, kommentiert Nico Ruhle das. Im Ersten Weltkrieg wurde in Neuruppin ein Flugplatz angelegt, den es heute noch gibt. Bis 1989 wurde er militärisch genutzt, die sowjetischen Truppen stationierten hier Mittelstrecken-Raketen. „Im Kriegsfall wäre das sicher eines der ersten Ziele der NATO gewesen“, weiß Ruhle. Vor den Toren Neuruppins befindet sich das Gut Gentzrode, hier errichtete die Rote Armee eine ganze Kleinstadt für ihre Zwecke – für mehrere Tausend Menschen.
Mittlerweile sind die Truppen längst abgezogen. Und das Rathaus ist ein Symbol für Frieden geworden, zumindest aus Sicht des Bürgermeisters. „Früher wurde es durch das Militär genutzt, jetzt ist es ein Ort für all die Anliegen der Bürgerinnen und Bürger, also wirklich eine Servicestelle.“ Einst seien hier vielleicht Kriegsversehrte zusammengeflickt oder Gefangene untergebracht worden. Jetzt könne man im Rathaus heiraten. „All das ist komplett in etwas Positives gedreht worden, und das ist doch etwas Schönes“, sagt Ruhle.
DIRK BLEICKER
ist Leitender Redakteur der DEMO. Er hat „Public History” studiert.